Europa ist mein Spielplatz, meine sichere Zone. Das dachte ich immer, wenn ich eine neue Reise begann, doch ich hatte die Zugfahrt nach Siebenbürgen (Transsylvanien) bei Weitem unterschätzt.
Meine Reise begann in NRW. Ich hatte Schlimmeres erwartet, die Zugfahrt nach Wien verlief erstaunlich ruhig. Ich saß mit einigen Rentnern zusammen, die sich Kekse teilten und mit denen ich schließlich in Passau umstieg und weiter fuhr. Dort wartete ich, füllte mein Wasser auf und wartete auf meinen Zug, der um 20 Uhr ankam.
Die Waggons waren alt und teilweise beschädigt, die Türen quietschten, als sie geöffnet wurden. Ich stieg ein und zeigte einem Kontrolleur mein Ticket. Er sah nur kurz auf mich herab, dann schickte er mich wortlos zu einem anderen Waggon. So ging es eine Weile. Ich wurde hin- und zurückgeschickt, niemand sprach deutsch oder englisch und schließlich setzte ich mich einfach in ein Abteil. Ruckelnd fuhr der Zug los und ich wünschte mir, dass niemand sich zu mir gesellte. Nach einer halben Stunde öffnete einer der Kontrolleure mein Abteil, betrachtete mein Ticket und schickte mich wieder davon. „Normal Waggons - there“, er wies hinter sich und ich ging immer weiter, bis die Abteile keine Schlafabteile mehr zu sein schien.
Es war wahrscheinlich die Art von Abenteuer, die ich mir immer vorgestellt hatte. Die alten Waggons, mürrische Schaffner, die eine andere Sprache sprachen und eine Nachtfahrt hinaus aus meiner Komfortzone. Doch nun spürte ich mein Herz rasen. Ohne Reservierung war ich mir nicht sicher, ob die Kontrolleure mich nicht einfach am nächsten Bahnhof aussetzen würden, sodass ich allein die Nacht in einer ungarischen Siedlung verbringen musste.
Ich lief die Waggons entlang und fand schließlich ein Abteil, in dem nur eine junge Frau saß. Mit dem Gefühl, damit ein bisschen sicherer zu sein, setzte ich mich zu ihr. Sie schenkte mir keine Beachtung. Als der nächste Kontrolleur nach meinem Ticket fragte, spürte ich meine Hände zittern. Er nahm es, betrachtete es kurz, nickte und verschwand. Erleichtert ließ ich mich auf meinen Sitz sinken. Kurz darauf öffnete ein Mann, groß wie ein Riese, mit dunklem Vollbart, die Tür zum Abteil. Er trug drei geöffnete Bierflaschen mit sich und setzte sich direkt vor mich. Für einen Moment spürte ich, wie Angst und Trotz gleichzeitig in mir aufflammen. Ich hatte es so satt, in jeder Begegnung immer eine Gefahr zu sehen. Doch dann begann er mit der anderen Frau zu sprechen. Sie redeten ungarisch, schienen sich zu kennen und sie wirkte nicht wirklich gut gelaunt. Ich versuchte nur noch zu schlafen, doch nach einer Weile wurden die Beiden immer lauter. Sie schlugen sich, küssten sich und rannten dann wieder raus und rein. Völlig verwirrt schlief ich wieder ein und als ich nach einem kurzen Schlaf wieder aufwachte, waren die beiden verschwunden. Nur noch die Bierflaschen waren übrig geblieben und sie hatten mich anscheinend mit Gemüseschalen beworfen, die nun auf und neben mir verteilt lagen. Ich war so überfordert.
Wieder legte ich meinen Kopf auf den Rucksack und wurde schließlich von einer Frau geweckt, die vor meinen Augen herum fuchtelte. Sie verscheuchte mich von meinem Platz und deutete mir an, zwei Sitze weiter zu rutschen. Ich verstand gar nichts und tat es einfach, um keinen Streit anzuzetteln. Dann trat ein schweißgebadeter Mann mit hochrotem Kopf ins Abteil und begann die Sitze mit schafsgroßen Einkaufstüten zu beladen. Die Frau fragte mich auf umständlichen Deutsch wohin ich fuhr und erklärte mir dann, dass die Beiden nach Bukarest wollten. Dann deutete sie auf ihren Bauch und sagte: „Operation. Schmerzen.“
„Braucht ihr Hilfe?“, fragte ich, doch sie sah mich nur verständnislos an.
„Schmerzen.“, sagte sie wieder und ich nickte nur irritiert.
Der Mann kam mit einem überdimensional großen Koffer rein und sie zeigte darauf. Ich half ihm, diesen zu verladen, sowie noch weitere Tüten, von denen ich nicht wusste, was sich darin befand. Als schließlich alles verstaut war, setzte ich mich wieder hin. Die Frau holte eine XXL Deo Sprühdose aus einer Tasche und zeigte auf ihren schweiß gebadeten Mann.
“Entschuldige Geruch.“, sagte sie und begann ihn mit dem Spray einzunebeln, bis er husten musste, dann besprühte sie sich, legte die Flasche zur Seite und strahlte mich an.
Sehr überfordert und verschlafen lächelte ich zurück, dann legte ich mich wieder hin. Ich betete, dass niemand sonst in dieses vollgeladene Abteil kommen würde und schlief ein.
In der Nacht kam alle drei Stunden ein neuer Kontrolleur vorbei. Meinen Ausweis betrachten sie nur kurz, die der anderen sehr viel intensiver. Am nächsten Morgen wachte ich um halb neun auf. Mein Rücken schmerzte und die Fahrt des Zuges wurde immer unebener. Draußen zogen weite Steppen an mir vorbei und als ich zu meinen Beifahrern sah, lächelten sie mich an. Ich versuchte mich ein bisschen mit der Frau zu unterhalten, war aber nach unserem Gespräch nicht sonderlich schlauer als zuvor und begann zu lesen. Die Frau öffnete eines ihrer Gläser mit eingelegtem Gemüse und trank daraus. Sie schienen aus Budapest zu kommen, doch ich hatte nicht verstanden, was sie mit dem ganzen Gepäck in Rumänien beabsichtigten. Ich sah, dass sie Tabletten in ihrer Hand hatte und bot ihr mein Wasser an, damit sie diese nicht mit dem eingelegten Saft trinken musste. Sie lächelte dankbar und füllte eine leere Maisdose mit Wasser, aus der sie dann trank.
Draußen wurden die Landschaften immer weiter. Ab und zu fuhren wir an kleinen Siedlungen vorbei, dann wieder an langen, hellen Friedhöfen. Nach einer Weile ging ich zur Toilette, doch bereits im Vorraum stank es so heftig, dass ich mich kaum traute, die Tür zur Toilettenkabine zu öffnen. Als ich es dann doch tat, stand der Urin darin knöchelhoch und ich ließ die Tür sofort wieder zufallen. Also ging ich zurück und wartete, bis der Zug nach einer kleinen Ewigkeit Medias erreichte. Dort verabschiedete ich mich von meinen beiden Mitreisenden und stieg in meinen Zug nach Hermannstadt, Sibiu.
Je weiter wir fuhren, desto höher wurden die Berge, bis sie sich wie die Alpen am Horizont schier endlos erhoben. Es dauerte noch eine Weile, bis ich endlich ankam und als ich nach 28 Stunden endlich die Stadt erreichte, hinterfragte ich ein weiteres Mal, wieso ich solche Reisen eigentlich immer wieder unternahm. Doch die Aussicht auf ein Bett, eine Toilette und eine Dusche ließ mich immer schneller zu meinem AirBnB gehen. Auf dem Weg begegnete ich mehreren Straßenhunden und Katzen sowie einer Romafamilie in bunten Gewändern und kleinen Supermärkten.
Ich erreichte endlich meine Unterkunft, stürzte zur Toilette, dusche, machte einen kurzen Einkauf und verbrachte den restlichen Abend damit, ausgestreckt in einem Raum zu liegen, den ich nur für mich hatte. Es war das erste Mal seit Monaten, dass ich wieder allein in einem Zimmer schlief. Sonst war ich immer unterwegs gewesen, hatte meistens das Bett geteilt oder in einem Hostelbett gelegen. Erst dann fiel mir auf, wie schwierig es war, wieder einzuschlafen.
Am nächsten Morgen wachte ich auf, machte mich fertig und folgte Google Maps zu dem Ort, wo die Zeitung war, bei der ich mein Praktikum machen wollte. Als ich plötzlich vor einer Baustelle stand, war ich mir mit einem Moment nicht mehr sicher, ob es vielleicht doch ein großer Fehler gewesen war.
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