Warum ich mich dagegen entschied, eine Weltreise mit einem Segelschiff zu machen.
Seit ich denken kann, war es mein Traum, auf einem Segelschiff durch die Welt zu reisen. Nach meinem Abitur bekam ich die Chance, genau das wahrzumachen. Vielleicht war ich blind von all der Romantik, die ein solches Leben verspricht, wer weiß. Doch am Ende gab ich diese Möglichkeit im letzten Moment auf.
Mein letztes Schuljahr hatte ich damit verbracht, mich impfen zu lassen, alle möglichen Informationen übers Segeln herauszusuchen, die Ausrüstung zu besorgen und ich begann für meine Reise neben dem Unterricht in einem Restaurant zu arbeiten. Mein Abitur war dabei eine Nebensache, auf die ich mich kaum konzentrieren konnte. Schon drei Mal war ich kurz davor gewesen, die Schule abzubrechen, doch immer hatte ich einen Grund gefunden weiter zu machen. Es fühlte sich an wie eine Ausrede. Vorbilder wie Nic Jordan, Rebecca Chelbea oder Rüdiger Nehberg hatten es auch ohne Abitur geschafft. Mir kam es affig vor, mich an dieser Absicherung, diesem großen Ticket für „alles“ im Leben, so festzuhalten. Trotz der Zweifel zog ich dieses letzte Jahr durch.
Kurz vor Silvester fragte ich in einer Facebook Gruppe, ob jemand noch eine Koje bei einer Atlantiküberquerung übrig hätte und so lernte ich den Mann, mit dem ich segeln sollte, kennen. Kurz vor mir hatte er gepostet, dass er noch Leute für eine Weltumseglung suche und er fragte mich ob ich bei ihm mitfahren wolle. Wir telefonierten und es fühlte sich richtig an. So surreal es mir auch erschien, plötzlich hatte mein Traum eine gewisse Struktur bekommen.
Schließlich bekam ich meine letzten Impfungen, begann auszusortieren und versuchte kläglich für meine Biologie Klausur zu lernen. Nach dieser Prüfung fühlte ich mich wie ausgebrannt, die restlichen brachte ich nur halbherzig hinter mich.
Ich dachte, ich wusste, was ich wollte, war überzeugt, dass das die Chance meines Lebens war und plötzlich stand ich am Bahnhof. Es war der Tag nach meiner Abiturentlassung und ich verstand nicht mehr, wann so viel Zeit vergangen war. Meine Geschwister umarmten mich und mein Vater spähte immer wieder neidisch auf meine Schwimmflossen. Mir war klar, wie viele Menschen genau von diesem Moment träumten, doch meine Gedanken schienen mir nicht mehr folgen zu können. Ich wusste nicht mehr, ob ich diese Reise wirklich wollte oder ob es bloß der Traum eines Teenagers war, der versuchte, der Welt zu entfliehen. Mit einem Mal verließ ich die Stadt, in der ich im Winter fast den Verstand verloren hätte.
Die erste Woche verbrachte ich in Norditalien bei einer Segelschule. Ich wiederholte meine Segelkenntnisse und zum ersten Mal zweifelte ich daran, ob ich all das wirklich wollte. Der See um mich herum war ständig in ein tiefes Blau getränkt. Diese Welt war so stimmig und still und ich war mittendrin. Mitten in meinen Gedanken.
Ich wusste nicht mehr, was ich fühlen sollte. Zum einen war da die Faszination für den See und das Segeln. Dann waren da die Erinnerungen an den Abschied und die Frage, was ich alles verpassen würde, wenn ich diese Reise antrat. Ich glaube noch nie in meinem Leben hatte ich eine so starke Fomo verspürt und es machte mich wahnsinnig. Ich würde um die Welt reisen, all die Orte sehen, von denen ich schon so lange träumte, und ich machte mir einen Kopf darum, was ich alles in Deutschland verpassen würde? Es war sehr paradox.
Doch ich realisierte, dass ich den größten Schritt hinter mich gebracht hatte: den Abschied. Mit meiner Segellehrerin redete ich viel über meine Pläne und realisierte wieder, dass ich diese Chance nutzen musste, sonst würde ich es mir vermutlich ein Leben lang vorhalten, nicht gegangen zu sein. Ich musste es zumindest versuchen, jetzt, wo ich noch keine Verpflichtungen hatte. Doch die Angst um das Gewohnte verzerrt manche Gedanken wie eine Fata Morgana und plötzlich erschien mir der schmuddelige deutsche Winter wie eine romantische Schneegeschichte, für die es sich doch bleiben lohnte.
Als ich am letzten Morgen aufstand und aus meinem Hotel auscheckte, spürte ich eine gewisse Angst. Der Wein, den ich noch am Abend zuvor auf einem Hafenfest mit einem Freund von der Segelschule getrunken hatte, ließ meinen Kopf dröhnen und die Sonne brannte vom Himmel.
Während ich auf meinen Bus wartete, saß ich auf einem Felsen am Ufer und starrte auf die Wellen. Ich versuchte mich zu beruhigen, einen klaren Kopf zu bekommen, doch die Angst machte mich wahnsinnig. Ein Schritt nach dem Anderen sagte ich mir immer wieder, doch genau dieser Schritt machte mich ja so nervös. Es brachte mir auch nichts zu sagen, dass alles gut werden würde. Diese Worte drangen nicht zu mir durch, da war nur dieses Gefühl und es überschattete alles.
Als ich meine Kopfhörer aus meinen Ohren zog, sprach mich der Mann neben mir an. Er fragte mich, wie lange ich schon hier sei und plötzlich begann er mir einen Vortrag darüber zu halten, warum genau diese Angst mein Leben so lebendig machte, warum es genau diese Momente waren, in denen man wuchs und wie gerne ich später auf diese Momente zurückblicken würde.
Für einen Moment zweifelte ich wieder an meinem Atheismus und fragte mich, wer mir dieses Zeichen geschickt hatte. Ich verabschiedete mich von ihm und ging zu meiner Haltestelle. Als ich an der Segelschule vorbeikam, winkten sie mir, wünschten mir Glück und mein Segellehrer warf mir eine Kusshand zu. Ich musste lächeln und nahm den Bus nach Verona. Von dort aus fuhr ich weiter nach Venedig. Die Hitze und Lautstärke in dem Zug verlagerte meine Aufmerksamkeit weg von der Angst und hin zu den Kopfschmerzen. Langsam wurde ich ruhiger und gleichzeitig hatte ich es immer noch nicht realisiert. Doch dann erreichte ich den Bahnhof und nahm den Bus zum Hafen.
Der Mann, dem das Schiff gehörte, wartete bereits auf mich. Wir hatten seit Silvester immer wieder Kontakt gehabt. Die Leute, denen ich von meinem Plan erzählt hatte, hatten mich mit hochgezogenen Augenbrauen angesehen; das junge Mädchen, das den reichen, älteren Mann mit dem Segelschiff kennenlernte und mit ihm eine lange Zeit auf engem Raum verbringen sollte. Ich wusste selbst, wonach das klang, doch ich wollte mir die Chance nicht nehmen lassen. In den Telefonaten hatte er nie etwas in der Richtung anklingen lassen und ich wollte es versuchen, wohlwissend, dass meine Freunde meinen Standort kannten.
Wir liefen zum Hafen, der von Zäunen umgeben war. Die Luft war dick wie Marmelade und ich spürte das Gewicht meines Rucksacks auf den Schultern. Auf dem Parkplatz reihte sich ein SUV neben den Anderen, S-Klasse neben Porsche und BMW. Tiefgebräunte Frauen liefen mit ihren kleinen Hunden am Steg entlang und der Hafen erstreckte sich ewig weit vor mir. Dann erreichten wir das Schiff. Es war eine Segelyacht, 44 Fuß und voll aufgerüstet für eine Weltreise. Dort lag er nun, mein Traum und er dümpelte in dem trüben Lagunenwasser. Der Mast war gigantisch hoch und als wir ins Innere traten, überraschte es mich trotzdem, wie viel Platz dort war.
Zuerst zeigte der Besitzer mir das Innere mit den Kabinen, den verschiedenen Toiletten und Duschen, die Küche, den Kartentisch und die großräumige (für ein Segelschiff jedenfalls) Küche. Ich räumte meinen Rucksack in eine der vorderen Kabinen, die mich an Harry Potters Zimmer bei den Dursleys erinnerte. Als ich fertig war, setzten wir uns auf das Deck und redeten bis in die Nacht. Dann ging ich schlafen. Das Schiff schaukelte beruhigend und ich hörte, wie die Wellen in einem gleichmäßigen Rhythmus gegen den Rumpf schlugen.
Am nächsten Morgen hatte ich keine Angst aufzustehen. Ich fühlte mich sicher und auch wenn wir nicht unbedingt die gleichen Interessen teilten, war er nett und höflich.
Die Woche über erledigten wir Arbeiten, basteln am Motor herum, säuberten und strichen Kabinen und versuchten der Hitze zu entgehen. Die Lagune war zu dreckig zum Schwimmen, dicke Ölpfützen der Yachten trieben auf der Wasseroberfläche, also gingen wir jeden Tag mehrmals zum Pool.
Für mich eröffnete sich in diesem Hafen eine Welt, die ich so nicht kannte. Mit Menschen, von denen ich immer gedacht hatte, es gäbe sie nur als Klischees in Filmen. Doch so war es nicht und diese neue Realität breitete sich immer weiter vor mir aus. Auch er war ein Teil davon. Mir war bewusst, dass man nichts verallgemeinern sollte, doch es kam mir vor, als wäre alles was diese Leute interessierte, ihr Körper und dass sie braun würden.
Sie lebten dort auf ihren millionenschweren Yachten, die den Hafen teilweise nie verließen und nutzten die Pools, statt ins Meer zu springen. Die Geschäfte waren völlig überteuert, genauso wie das Essen und mir war nicht klar, wie wenig man sich seiner eigenen Privilegien bewusst sein konnte. Die Gesprächsthemen drehten sich immer um dasselbe und wirkliche Ruhe gab es nie.
Je mehr Zeit ich dort verbrachte, desto tauber fühlte ich mich. Immer wieder überkamen mich Momente, in denen ich das ganze Vorhaben anzweifelte und mich fragte, was ich da überhaupt tat, wenn ich hörte, wie weltfremd manche Gespräche waren. Wie zum Beispiel, als es darum ging, was wir tun würden, wenn wir Geflüchtete auf dem Mittelmeer antrafen, die kurz vor dem Ertrinken waren. “Da muss man ganz schnell umdrehen, sonst bekommen wir Probleme mit der Küstenwache.” Ich war viel zu entsetzt, um darauf zu reagieren. Oder als er mir seine Waffe zeigte, die wir dafür nutzen sollten, um uns gegen Diebe in der Karibik oder der afrikanischen Küste zu verteidigen. Ich war so überfordert, dass ich das Gefühl hatte, keine klaren Entscheidungen mehr treffen zu können. Ich hatte mit allem gerechnet, doch nicht mit so etwas. So vergingen die Tage, aufstehen, zum Pool, kleine Reparaturen am Boot, wieder zum Pool und dann am Abend gab es Alkohol. Er bezahlte mir alles, jeden Aperol, jeden Sekt und das ganze Essen. Immer wenn ich ihm anbot, ihm das Geld zurückzugeben, winkte er bloß ab. Auch wenn ich ihn fragte, wie das mit meinem Anteil während der Fahrt war, lächelte er bloß. Er hatte teure Pläne, allein schon für die Ausrüstung, doch auch von den Häfen und einer Ausbildung zum Tauchen. Immer wenn ich ihm sagte, dass ich nicht wisse, wie lange ich auf dem Schiff mitsegeln könne, da mein Budget nicht ewig reichen würde, meinte er nur, dass wir das schon irgendwie hinbekommen würden.
Jeden Tag schien es heißer zu werden und wir hatten die Lagune nicht verlassen. Die Yacht lag still an ihrem Liegeplatz, nur manchmal begann sie zu schaukeln, wenn ein Motorboot die Ruhe des Hafens zerschnitt. Jeden Tag gab es einen anderen Grund, warum wir nicht rausfahren konnten und ich begann, diesen Hafen zu verachten.
Körperlich ging es mir täglich schlechter. Die Hitze setzte mir zunehmend zu und ich hatte nicht das Gefühl, mit dem Besitzer des Schiffes über viel Tiefgründiges reden zu können. Immer wieder ging es um Geld und wie viel die eine und dann die andere Motoryacht verbrauchte. Irgendwann konnte ich immer weniger antworten, da sich die Themen immer wieder zu wiederholen schienen. Also nickte ich nur noch und stimmte zu, ohne wirklich das Gefühl zu haben, etwas Neues einbringen zu können. Wir verbrachten die ganze Zeit zusammen und es tat mir leid, dass ich immer ungesprächiger wurde, doch ich hatte nicht wirklich das Gefühl, etwas daran ändern zu können.
Mir wurde immer klarer, dass diese Reise bedeuten würde, dass ich zwar die Landschaften und Meere der Welt zu sehen bekäme, doch niemals wirklich zu den Kulturen und Menschen durchdringen könnte, wenn ich in einer solchen Blase reisen würde. Doch dann fragte ich mich auch wieder, ob ich jemals wirklich anders würde reisen können oder ob meine Prägungen mich immer von diesen Welten abschirmen würden. Menschen wie ich würden niemals verstehen, was wirklicher Hunger war oder was es bedeutete, schon als Kind stundenlang für seine Familie arbeiten zu müssen.
Dieses Schiff bedeutete für mich ein Leben, von dem andere Leute träumten. Sicherheit, eine lange Reise und jegliche technische Ausstattung, die ich mir immer erträumt hatte. Doch für mich würde es auch bedeuten, blind durch die Welt zu laufen und die Augen vor dem zu verschließen, was um uns herum geschah. Ich wusste, dass das nicht der Weg war, den ich gehen wollte und bekam den intensivsten inneren Konflikt zu erleben, den ich je hatte.
Es war ein hin und her, eine Entscheidung, die niemand für mich treffen konnte. Schließlich entschied ich mich zu gehen. Ein persönlicher Aspekt kam noch hinzu, doch das war nicht unbedingt der ausschlaggebendste Punkt. Ich erklärte meine Entscheidung, jedoch nicht jeden einzelnen Grund, verabschiedete mich und plötzlich stand ich da, am Bahnhof von Venedig, mit einem Traum, der in einem schmutzigen Hafen ertrunken war.
Ich fuhr nicht zurück. Jedenfalls nicht direkt. Für eine Woche befand ich mich in einem gewissen Schockzustand, in dem ich nicht einmal wirklich sagen konnte, ob sich diese Entscheidung richtig anfühlte. Sie war viel zu groß, als dass ich sie wirklich zu verstehen schien. Alles kam mir seltsam vor und ich fühlte mich so verloren wie noch nie in meinem Leben. Diese Segelreise war mein Traum gewesen, seit ich dreizehn Jahre alt war und mit einem Mal war all das weg. Hinzu kamen die Erwartungen, die ich an mich selbst hatte und den gewissen Teil meiner Identität, den ich an diese Reise gehängt hatte. Kurz gesagt - ich hatte eine kleine existentielle Krise, die ich damit bewältigte, mit einer Freundin wandern zu gehen.
Dieses Motiv, das man in seinen Zwanzigern verloren ist, ist nichts Neues. Doch in diesen Wochen schien es mich jeden Tag zu überweltigen. So viele Leute teasern diese Zeit als eine goldene Ära an, doch letztlich ist es die anstrengendste, die man sich vorstellen kann. Eine ewige Neuorientierung und eine Überschüttung mit Möglichkeiten, in denen man zu ertrinken schien. Ich musste für mich einen Weg finden, in dem ich reisen konnte und dabei die Menschen verstand, die die Umwelt nicht zu sehr belastete und mit der ich regelmäßig nach Deutschland zurückkehren konnte. Mir war klar, dass ich noch immer die Welt sehen wollte, doch nicht auf diese verblendete Art und Weise. Allerdings war es auch keine Alternative für mich, wie ein Backpacker von Hostel zu Hostel, von Party zu Party zu fahren oder in eine von Europäern geleitete Yogaschule zu gehen. Doch nach und nach fand ich meinen Weg. Auch wenn man so etwas mit Sicherheit nie wirklich behaupten kann. Ich würde noch immer gerne segeln. Doch nur auf einer Weise, die zu meinen Werten passt.
Diesen Blog, den ich eigentlich für meine Segelreise angelegt hatte, werde ich nun dafür nutzen, um für die Leute von Reisen zu erzählen, die weg von touristischen Reisen sind. Weg von einer versprochenen Sicherheit oder einer schönen Zeile für den Lebenslauf. Zudem möchte ich das Narrativ verlassen, dass nur weiße Männer auf andere Arten wie durch das Trampen oder mit Wildcampen reisen können. Reisen als Frau* ist eine andere Erfahrung, schwieriger, doch sie ist möglich. Diese Geschichten sollten erzählt werden.
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